Über Diabetes: "Du kostest mich jeden Tag so viel Energie"

Christel Gawenda ist Diabetikerin - und das seit 32 Jahren.
In einem Brief an ihre Krankheit erzählt sie, wie der Blutzucker ihr Leben prägt

Mein Honigsüßer, wenn ich Dich so nenne, klingt es, als seist Du so zart, so unschuldig, so lieblich. Wie ein Kosewort für etwas, dass man nie mehr hergeben mag.

Erst ins Lateinische übersetzt, entblößt Du Dein wahres Gesicht, Deine hässliche Fratze: „honigsüß“ heißt nämlich mellitus. Weil Du in mir bist, in meinem Blut, meinem Urin, bin ich krank. Sehr krank. Ich habe Diabetes mellitus Typ 1. Eine Stoffwechselerkrankung, die längst zur Volkskrankheit geworden ist und heute zu den zehn häufigsten Todesursachen hierzulande gehört.
Die Autorin: Christel Gawenda
Experten sagen, dass jeder zehnte Deutsche Diabetes hat. Bis 2020 sollen schon zehn Millionen Deutsche erkrankt sein. Aber zurück zu uns. Ich finde, es ist mal an der Zeit, Dir ein paar Zeilen zu schreiben: Schließlich bist Du seit 32 Jahren mein ständiger Begleiter. Ich war damals 18, als Du in mein Leben tratest. Meine Bauchspeicheldrüse hatte sich entzündet. Wieso, weiß ich bis heute nicht.

Seitdem sind Deine Höhen und Tiefen auch meine. Wenn Deine Werte durch die Decke gehen, reagiere ich.Wenn sie ins Bodenlose fallen, reagiere ich. Und esse Traubenzucker. Du musst wissen: Ich hasse Traubenzucker. Aber es ist halt meine Medizin. Wie das Insulin, das meine Bauchspeicheldrüse nicht mehr produziert. Würde ich beides auf die leichte Schulter nehmen, wäre ich seit 32 Jahren tot. Früher habe ich mir das Insulin gespritzt, bis zu sechs Mal am Tag. Davon war das Gewebe meiner Haut völlig zerstört. Ich fühlte mich wie ein Junkie, der nicht ohne seinen regelmäßigen „Schuss“ leben kann.

Heute verwende ich eine Pumpe, die über eine lange Schnur mit einem Katheder verbunden ist. Dieser steckt ununterbrochen in meinem Bauch. Ich bin nicht mehr so eitel wie damals. Viele Mythen ranken sich um Dich. Als ich die Diagnose erhielt, erzählten sie mir, ich könne keine Kinder kriegen. Als sie es besser wussten, war meine erste große Liebe längst über alle Berge. Dann hieß es, ich hätte zu viel Süßes gegessen – auch das ist völliger Blödsinn. Der Diabetes Typ 2 geht tatsächlich häufig auf ungesunde Ernährung, zu wenig Bewegung und Fettleibigkeit zurück. Oder auf ein hohes Alter. Der Typ 1 nicht.

"Falls es Dich interessiert: Mir geht es derzeit richtig gut."

Falls es Dich interessiert: Mir geht es derzeit richtig gut. Wer mich nicht kennt, sieht mir die Krankheit nicht an. Sieht nicht, dass ich durch Dich zu 50 Prozent schwerbehindert bin. Dass das so ist, kostet jede Menge Kraft. Etwa 20 Prozent meiner Energie verwende ich für Dich. Umso mehr bringt es mich zur Weißglut, wenn die Leute sagen: Ach, Diabetes, das ist ja gar nicht mehr so schlimm. Im ersten Moment wünschte ich mir, Sie würden Dich nur drei Wochen bei sich haben. Du bist kein Schnupfen. Du bist lebensbedrohlich. Und Du diktierst meinen Alltag. Aber im zweiten Moment denke ich mir: Wir müssen mehr aufklären, den Menschen fehlen die Informationen über Dich. Auch deshalb schreibe ich heute diesen Brief.

Unser Tag beginnt um 5.45 Uhr, gleich nach dem Aufstehen, messe ich meinen Blutzucker das erste Mal, um 22 Uhr – kurz vor dem Schlafen – das letzte Mal. Dazwischen liegen bis zu sechs weitere Piekse in die Fingerkuppe, die längst eine dicke Hornhaut gebildet hat. Ich muss ständig rechnen. Ein Brötchen hat zwei BE (= Broteinheiten), Marmelade eine zusätzliche BE. Mehr als zehn BE darf ich nicht auf einmal zu mir nehmen.

Ohnehin muss ich stets aufpassen was ich esse, was ich trinke, wie viel ich mich bewege. Wenn ich beruflich einen Vortrag vorbereite, muss ich mich im Vorfeld auch auf Dich vorbereiten. Ich versuche ein normales Leben zu führen und wäre todunglücklich, wenn ich mir selbst alles verbieten müsste (Übrigens: Die, die sich alles verbieten, rutschen oft in eine Depression. Diabetiker sind sehr häufig auch depressiv). Nur auf eines muss ich verzichten: meine Spontaneität. Ich kann nicht mal eben aufs Rad steigen und losradeln. Ich muss zuvor erst den Blutzucker in den Griff bekommen. Das kostet Lebensqualität. Aber ich will nicht jammern.

Wenn ich mir eine Krankheit aussuchen dürfte, würde ich Dich wählen. Du willst wissen, wieso? Na, weil ich Dich selbst beeinflusse, weil ich Dein Chef sein kann, wenn ich mich korrekt verhalte. Der Krebs spielt mit anderen Regeln. Dem ist man schonungslos ausgeliefert. Natürlich kannst auch Du zu Spätfolgen führen. Ich kenne eine Frau, die ist erblindet. Einer anderen haben sie die Füße amputiert. Ich will sehend auf zwei Beinen durchs Leben gehen. Und deshalb esse ich gesund, nehme artig meine Medizin und piekse mich. Du gehörst zu mir, zu meinem Alltag, keine Frage.

Aber: Du bist nicht ich, das habe ich gelernt. Ich bin nicht nur Diabetikerin. Ich heiße Christel Gawenda, bin 50 Jahre alt, verheiratet, habe zwei Kinder. Ich bin Sozialarbeiterin im Jugendamt Dortmund und leite ehrenamtlich eine von mehr als 350 Selbsthilfegruppe für Diabetiker. Ich habe Träume und Wünsche, ich schwimme und fahre gerne Rad. Ich mache Bauchtanz. Du, mein Honigsüßer, bist nur ein Teil meines Lebens. Und auf diese Erkenntnis bin ich stolz.

Wir bedanken uns recht herzlich für die freundliche Genehmigung (zur Veröffentlichung an dieser Stelle) bei der Autorin des Briefes, Frau Christel Gawenda, sowie der gleichfalls freundlichen Einwilligung der Landesredaktion der Westfälischen Rundschau des ursprünglich dort publizierten Artikels!

Wieder nach oben

     Vielen Dank!